Leseprobe aus:


 
...

Ich schloss das Fenster,
wollte es mir im Abteil gemüt-
lich machen - und war nicht
mehr allein! Ein Junge hatte
sich auf den Fensterplatz in
Fahrtrichtung gesetzt. Grob
geschätzt war er ein, zwei Jahre
älter als ich. »Na?«, sagte er.
»Was, na?«
»Ich bin Benny«, stellte er
sich vor. »Wohin?«
»Berlin.«
»Ich auch - und?«
»Was und?«
»Hast du keinen Namen?«
 
»Doch, natürlich. Cora.« Eigentlich hatte ich auch vorgehabt,
am Fenster zu sitzen. Aber da saß zu meinem Leidwesen bereits
mein Koffer.
»Soll der nach oben?« Dieser Benny zeigte auf mein Gepäck-
stück. »Dann hätten wir mehr Platz.« Platz wozu? Wollte er hier
drinnen Turnübungen machen? Ohne meine Antwort abzuwarten,
stand er auf und wuchtete meinen Koffer in die Ablage. Ich hätte
das vermutlich kaum geschafft. Schon gar nicht so mühelos.
Kaum saß er wieder, zog er seine Turnschuhe aus. Misstrauisch
benutzte ich mein Riechorgan, um erleichtert festzustellen, dass
seine Füße nicht stanken. »Was machst du in Berlin?«, fragte ich
ihn, nachdem auch ich mich meiner Stiefel entledigt hatte. Meine
Füße stanken natürlich auch nicht.
»Dreharbeiten«, antwortete er nach kurzem Zögern.
Dreharbeiten. Der Kerl war beim Film. »Als Schauspieler?«,
fragte ich. Er lachte.
»Nein, als Kamera.«
Erst kapierte ich nicht. Dann spürte ich die Hitze im Gesicht.
Bestimmt war ich wieder mal knallrot geworden. Der Scherz-
keks hatte sich nur über meine blöde Frage lustig gemacht.
Ha ha. Wirklich wahnsinnig witzig. »Nun sag schon.«
Er schaute mich an, senkte den Blick, betrachtete seine Finger-
nägel. »Ähm - na gut, ich geb's zu. Ich bin nur die Szenen-
klappe.«
Dass Jungs nie wissen, wann sie aufhören müssen. Übertreib es
nicht, Mister Funny. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte,
erzählte er ganz ernsthaft weiter. Wie er zum Film gekommen war
und dass er schon ziemlich lange dabei wäre. »Aber ich drehe
kaum in Deutschland. Alles internationale Dinger. Viel Werbung.
Ab und zu spiel ich auch in Videoclips mit.« Meine Leib- und Ma-
genfreundin Karo sagt zwar immer, ich wäre die gutgläubigste Kuh
unter unserem Himmel, aber irgendwo gibt es auch bei mir eine
Grenze. Wenn der Kerl nicht so ehrliche Augen gehabt hätte, in
die ich kaum zu blicken wagte, hätte ich spätestens jetzt meinen re-
servierten Platz aufgegeben und das Abteil gewechselt. So ließ ich
mich probehalber auf sein Spielchen ein. »Ist das nicht ziemlich
stressig? Wie packst du denn die Schule, wenn du so viel unter-
wegs bist?«
»Schule? Was ist das?«, fragte er.
Na bitte. Schon wieder trug er zu dick auf. Offenbar war er doch
bloß auf reine Verarschung aus. Oder war er tatsächlich eine rich-
tig coole Nummer? Ich stellte mir Karos Reaktion vor, wenn ich
ihm die Geschichte in meiner Naivität einfach abgekauft hätte. Sie
würde sich garantiert kringeln vor Lachen. Wie letztes Frühjahr,
als in unserer Klasse die Telefonkette aktiviert wurde. Um 7.00 Uhr
morgens erreichte mich die Meldung, dass die ersten vier Unter-
richtsstunden ausfielen. Natürlich erfüllte ich meine Pflicht, gab
dem nächsten auf der Liste Bescheid und kehrte zurück in mein
Bett. Allerdings war ich am Ende die Einzige, die erst zur fünften
Stunde antanzte. Ein Blick auf den Kalender und auch ich wäre
stutzig geworden: 1. April. Damals schwor ich mir, nie wieder so
leichtgläubig zu sein. Schauspieler. Blödsinn. Trotzdem tat ich
erst mal so, als würde ich ihm seine Geschichte glauben. Ob wahr
oder gelogen war doch vollkommen egal. Je unwahrscheinlicher,
desto spannender. Auf die lockere Art, wie er erzählte, klang
jedenfalls alles verdammt echt. »Soll das heißen, du gehst nicht
mehr zur Schule?«, fragte ich weiter.
Er zuckte mit den Schultern. »Hab ich geschmissen.«
Nun war aber endgültig Schluss. Der Typ war höchstens sech-
zehn. Da musste man noch zur Schule. Aber, ging es mir durch
den Kopf, wenn nun doch alles stimmte und er mit der Filmerei
bereits richtig Kohle machte? Wieso sollte er sich dann noch mit
Lehrern herumstreiten? Ich sah mir seine Klamotten an. Nichts
Besonderes. Er war ein Jeanstyp. Allerdings nicht in blau, sondern
in schwarz. Und - was ich ihm hoch anrechnete - der Schritt seiner
Hose hing ihm nicht runter bis zu den Knöcheln. Schon mal was.
Die Turnschuhe waren alt und ausgelatscht. Ich hatte meine letzten
allerdings auch getragen, bis sie auseinandergefallen waren. Im lin-
ken Ohr trug er einen Stecker mit grünem Recyclingpunkt. Der sah
zwar irgendwie selbstgemacht aus, war aber ganz witzig. Wollte
dieser Benny der Welt zeigen, dass er wiederverwertbar war?
Wenn ja, wofür? Rein äußerlich betrachtet, schien er es bisher
jedenfalls nicht zum Dollarmillionär gebracht zu haben.
»Na ja, so richtig geschmissen hab ich die Schule nicht«, erzählte
er nach kurzer Pause weiter. Na bitte. »Ich hab mich erst mal für
ein halbes Jahr beurlauben lassen.«
Der Typ schien mich tatsächlich für obernaiv zu halten. Machte
einen auf cool und sah in mir das leichtgläubige Opfer. Schauspie-
ler. Wer's glaubt. Überhaupt - so viel wie ich vor der Glotze hing,
hätte ich ihn garantiert schon mal gesehen.
»Und du?«, fragte er plötzlich. »Ähm …«
Ich war doppelt überrascht. Zum einen war er der erste Junge,
der nicht nur von sich erzählte, sondern auch mal was fragte. Zum
andern konnte ich nach seiner abenteuerlichen Geschichte schlecht
damit kommen, dass ich unterwegs zu meiner Oma war, weil mei-
ne Eltern mir nicht zutrauten, dass ich ohne Schaden überlebte,
wenn sie mich für ein paar Tage allein ließen. Ich bat den mächti-
gen Gott der Phantasie doch bitte schnell ein paar intelligente Ein-
fälle vom Himmel zu schmeißen. Etwas Beeindruckendes musste
her. Und zwar dalli. »Ich fahre zum Leistungstraining«, platzte es
aus mir heraus. Keine Ahnung, woher das so plötzlich kam. Doch.
Natürlich. Aus dem Fernsehen. Hatte kürzlich was über ein Sport-
internat gesehen. Tja, Junge, da machst du große Augen, was?
»Leistungstraining?« Er nickte anerkennend. »In welcher Sport-
art?«
Welche Sportart? Keine Ahnung. Turnen? Nein - bin ja nicht le-
bensmüde. Schwimmen? Buach. Seit meiner Sportlehrerin aufge-
fallen ist, dass ich meine Regel wöchentlich hatte, ließ sie keine
Entschuldigung mehr gelten. Leichtathletik? Bin ich etwa masochis-
tisch veranlagt? Und Ballspiele kamen erst recht nicht in Frage.
Bälle hassen mich. Von Kindesbeinen an. Sobald so ein kleines -
oder auch großes - rundes Ding in meine Nähe kommt, wechselt
es gegen alle physikalischen Gesetze eigenmächtig, vorsätzlich und
gezielt den Kurs, um mir ins Gesicht zu donnern. »Kannst ja mal
raten«, sagte ich in meiner Not. Ganz toll. Sehr einfallsreich. Wa-
rum schaute mich der Kerl plötzlich so prüfend an? Er musterte
mich von oben bis unten. Reflexartig fuhr ich mir über die Wan-
ge. Mamas Lippenstift! Als ich nach der Wischaktion unauffällig
meine Finger betrachtete, waren allerdings keinerlei Spuren zu er-
kennen. Als nächstes fiel mir ein, dass ich wegen der mütterlichen
Eskorte vollkommen auf Make-up verzichtet hatte. Ich hatte we-
der Lippenstift noch Lidschatten noch Parfum aufgetragen. Mama
maulte nämlich immer rum, wenn ich mich schminkte. Dabei bre-
zelte sie sich selber ständig auf wie ich weiß nicht was. Trotz allem
war mir Bennys Blick nicht wirklich unangenehm.
»Sumoringen?«, fragte er schließlich.
Waren Sumoringer nicht diese entsetzlich dickleibigen Nacktär-
sche mit den Windelhosen aus aufgerollten Leintüchern? »He,
Moment mal«, protestierte ich. Der Kerl hatte sie wohl nicht mehr
alle? Ich war und bin alles andere als dick! Er warf lachend seinen
Kopf nach hinten. Oben links, Position sieben kariös, erkannte
ich mit fachkundigem Tochterblick. So ist das eben, wenn beide
Eltern in der Zahntechnikerbranche tätig sind.
»Nur ein Scherz«, sagte er. »Sag schon. Ich komme sowieso
nicht drauf.« Ein weiterer Blitzgedanke.
»Eiskunstlauf«, antwortete ich. Vergangenen Winter war ich mit
Karo ziemlich regelmäßig auf der Eisbahn gewesen. Anfangs hat-
te ich mir serienweise blaue Flecken geholt. Aber mit der Zeit be-
kam ich doch ein klein wenig Gefühl in die Kufen. Ich hatte es
zwar noch immer nicht bis zum doppelten Bauchklatscher oder
zum mehrfachen Rippenkracher gebracht, aber immerhin konnte
ich inzwischen rückwärts laufen.
»Eiskunstlauf?« Er musterte mich noch einmal. So, wie er nach-
fragte, schien er tatsächlich angebissen zu haben. »So richtig mit
Meisterschaften?«
»Bis jetzt nur auf Landesebene«, antwortete ich selbstbewusst.
»Mal sehen, wie weit ich diese Saison komme.« Ja. Die Antwort
war gut.
»Eine Eisprinzessin«, murmelte er. Dann hob er den Blick und
zeigte nach oben. »Deshalb ist dein Koffer so schwer.«
Hoffentlich wollte er jetzt nicht meine Schlittschuhe sehen. Zum
Glück ging in diesem Augenblick die Abteiltür auf. »Die Fahr-
scheine bitte«, sagte der Zugbegleiter. Das Namensschild identi-
fizierte ihn als J. Fleischmann. »Alles in Ordnung?«
»Klar« - »Sicher«, antworteten wir gleichzeitig und mussten la-
chen.
»Ich sehe schon, auf euch beide brauche ich nicht aufzupas-
sen«, meinte J. Fleischmann. »Muss euch wirklich nicht peinlich
sein«, fuhr er fort, während er sich die Fahrausweise anschaute
und mit spielerischer Leichtigkeit entwertete. »Solche Mütter wie
eure erlebe ich jeden Tag. Die sind immer so aufgeregt, wenn ih-
re Kinder allein verreisen. Vor allem beim ersten Mal. Sie meinen
es ja nicht böse.«
»Was faselt der da?«, fragte Benny, nachdem Herr Fleisch-
mann das Abteil wieder verlassen hatte.
So war das also. Die Frau auf der Rolltreppe war seine Mutter
gewesen! Ob sie ihm einen ähnlich peinlichen Abschied geliefert
hatte wie Mama mir? Dann wäre er ja ein richtiger Leidensgenos-
se. Irgendwie sympathisch. So viel zum Thema viel unterwegs.
Erzähl mehr davon, Junge.
...

208 Seiten; Format 12,8 x 20,5; Gebunden; ISBN 3-473-34408-7; Euro 9,95

 

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