Textprobe aus: »Toms Geschichten« - ausgestrahlt im  
Bayerischen Rundfunk 

 

DER STAUSEE

»O Nein!«, ärgert sich Tom. »Ich hab's geahnt.« 
Warum, fragt er sich nun, hat er das enorme Risiko überhaupt in 
Kauf genommen? Als hätte er nicht von Anfang an gewusst, dass 
er die einzige Schwachstelle des ganzen Systems nicht so stark 
belasten durfte. Trotzdem hat er bis gerade nicht geglaubt, dass 
sein gewagter Plan auch scheitern könnte. Ausgerechnet an der 
Stelle, an der Tom am sorgfältigsten gearbeitet hat, ist der Damm 
gebrochen. Mit unbändiger Wucht tobt das Wasser den Hang 
hinunter und bahnt sich rücksichtslos seinen Weg ins Tal. Was sich 
den Fluten entgegenstellt, wird mitgerissen.
»Hätte ich doch bloß nicht …«, Tom bricht mitten im Satz ab. 
Selbstvorwürfe machen jetzt auch keinen Sinn. Hätte, wäre, würde - 
das nützt doch alles nichts. Nachdem sich sein Vorhaben nun doch 
als ein klein wenig zu kühn entpuppt hat, versucht Tom zu retten, 
was zu retten ist. Hätte er seinen Stausee nicht ausgerechnet in der 
Hochebene angelegt, wäre der Schaden sicher deutlich geringer. 
Ganz allmählich ebbt die Flutwelle ab. Der reißende Fluss wird zu 
einem kleinen Rinnsal, das in Schlangenlinien seinen Weg ins Tal 
nimmt. Mit Holzbarrieren und Steinen leitet Tom das Wasser um. 
Mit bloßen Händen bringt er die kostbarsten Gegenstände in Sicher-
heit. Vor allem die Straßenbeleuchtung ist arg in Mitleidenschaft 
gezogen. Der Bahndamm ist teilweise unterspült. Die ganze Mühe, 
die tagelange Arbeit - alles umsonst. Sein gesamtes Taschengeld 
hat Tom für neues Material ausgegeben. Plastikfolien, Schläuche, 
Gips, Spachtel, sogar Kunstgras hat er besorgt. Der Damm sollte 
schließlich nach Abschluss der Bauarbeiten begrünt werden. Damit 
die Kühe darauf weiden können.  Und jetzt? 
Alles im Eimer. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eins ums andere Mal 
presst Tom den triefenden Putzlappen aus. Behutsam tupft er die 
Straße trocken. Dass die aufgeweichte Asphaltfarbe verschmiert, 
kann Tom nicht verhindern. Die Viehherde ist bis ins Dorf gespült 
worden. Hat er seinem Staudamm etwa zu viel Wasser zugemutet? 
Hätte seine geniale Konstruktion aus Streichhölzern und Gips einer 
geringeren Wassermenge standhalten können?
Endlich hat Tom das Wasser beseitigt. Die Sekunde der Wahrheit 
steht bevor. Gleich wird sich herausstellen, ob auch das Herzstück 
der Anlage Schaden genommen hat. Tom wischt sich die Hände 
trocken. Mit spitzen Fingern steckt er den Stecker in die Steckdose 
und nimmt erleichtert zur Kenntnis, dass die Sicherung drin bleibt. 
Vorsichtig dreht er am Schalter des Transformators. Als wäre nichts 
gewesen, setzt sich sein ICE in Bewegung. Selbst die Beleuchtung 
der Modellhäuschen funktioniert. Während der ICE seine Runden 
dreht, betrachtet Tom noch einmal den ganzen Schaden. Dass auf 
dem Hang mal eine Viehweide war, ist nach dem Dammbruch kaum 
noch zu erkennen. Die Hochebene sieht aus, als hätte ein Meteorit 
eingeschlagen. Den Straßenbelag muss Tom erneuern und eine der 
Straßenlampen hat er beim Wischen abgeknickt. Aber sonst - sonst 
wirkt doch alles noch ganz in Ordnung. So etwas nennt man wohl 
Glück im Unglück? 
Vielleicht sollte Tom seine ehrgeizige Idee, einen echten Stausee 
mit richtigem Wasser zu bauen, noch einmal gründlich überdenken. 
Auch ein gemalter Stausee müsste seiner Modelleisenbahn doch 
ganz gut zu Gesichte stehen. 

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