Halloween - nichts für Vampire
Evi
Ramp summt gut gelaunt vor sich hin. Sie
fiebert dem fröhlichen Fest entgegen, das heute
Nacht steigen soll. Außerdem erwartet sie Besuch
von Gustl Bauer, ihrem lieben Freund vom Land.
Von Jahr zu Jahr freut sie sich mehr auf Halloween.
Die Zahl der Menschen, die sich in der Halloween-
nacht verkleiden, wird immer größer. Die einen
setzen Masken auf und gehen als Werwölfe, die
andern tragen Monsterkostüme. Viele schieben
sich falsche Zähne in den Mund, schminken ihre
Gesichter totenblass und spazieren als Vampire
durch die Straßen.
Sich
zu verkleiden hat Evi Ramp natürlich nicht
nötig. Schließlich ist sie eine echte Vampirin. Mit
Urkunde der transsilvanischen Vampirgesellschaft.
Trotzdem malt sie sich schmunzelnd eine Blutspur
in den Mundwinkel und tupft weißen Puder auf ihre
Wangen. Kaum ist sie fertig, klopft es auch schon
an ihrer Gruft. Schwebenden Schrittes eilt Evi zur
Eichentür, um ihren Freund zu empfangen. »Aber
Gustl, wie siehst du denn aus?«, ruft Evi lachend,
als sie ihren Gast erblickt. Er trägt ein kariertes
Hemd, bayerische Lederhosen und einen Filzhut
mit Gamsbart. »Das nenne ich wirklich eine
gruselige Aufmachung.«
Gustl Bauer sieht an sich hinunter. »Nicht wahr?«,
erwidert er stolz. »Als du gesagt hast, dass sich
die Menschen an Halloween verkleiden, bin ich
sofort in einen Kostümverleih gegangen.«
»Aber die Menschen verkleiden sich zu diesem
Anlass doch ganz anders. Sie schlüpfen in
Kostüme, die ihren normalerweise Angst machen.«
»Ja?«, fragt Gustl. »Aber so etwas muss
ihnen doch Angst einjagen.« Er dreht sich einmal
um die eigenen Achse.
Evi Ramp zuckt kichernd mit den Schultern. »Ich
weiß ja nicht.«
Gustl Bauer wechselt das Thema. »Und was
geschieht, wenn sich alle verkleidet haben?«
»Na, was schon? Die Leute erschrecken einander
und beißen sich gegenseitig in den Hals.«
»Klingt viel versprechend.«
»Natürlich beißen sie nicht wirklich zu.. Sie tun nur
so als ob. Wir Vampire haben an Halloween
allerdings freie Auswahl. Du wirst sehen - in ihrer
Festlaune strecken dir alle den Hals entgegen und
lassen sich ohne jede Gegenwehr beißen.«
Ihr Freund vom Land kann es gar nicht glauben.
»Sie laufen nicht wie üblich schreiend davon?«
Evi Ramp winkt ab. »Aber nein. Sie halten auch
uns für verkleidete Menschen.«
Gustl Bauer reibt sich die Hände. »Dann nichts wie
los.«
Wenige Minuten später brechen sie auf in die
Dunkelheit. In der Stadt herrscht ungewohnter
Trubel . Unzählige Werwölfe, Vampire, Franken-
steins und andere Monster ziehen durch die
Straßen. Gustl ist der einzige, der Lederhosen
trägt. Die feiernden Menschen knurren, fauchen
und kreischen, um sich gegenseitig zu erschrecken.
Manche falle sich lachend um den Hals und tun
so, als würden sie einander beißen. Evi stürzt sich
sogleich ins Getümmel. Noch bevor ihr erstes
Opfer merkt, dass es sich in Evis Fall um eine
leibhaftige Vampirin handelt, ist es bereits zu spät.
Gustl steht zögernd am Rand und weiß nicht so
recht, wie er sich verhalten soll. Bald ist seine
Begleiterin in der Dunkelheit verschwunden.
Auch Evi verliert ihren Gast aus den Augen und
versucht, ihn zu finden. Aber das Durcheinander
ist viel zu groß. Evi gibt die Suche auf, um sich den
schier unbegrenzten Möglichkeiten dieser Nacht zu
widmen. Genießerisch wandelt sie von einem Hals
zum nächsten. Erst kurz vor dem Morgengrauen
kehrt Evi satt und zufrieden in ihre Gruft zurück.
Plötzlich hält sie misstrauisch inne.
An der hinteren Friedhofsmauer liegt neben Evis
gut verstecktem Eingang eine Gestalt. Mehr kann
Evi in der Dunkelheit nicht erkennen. Sie zögert.

Hat sich etwa doch ein Vampirjäger an ihre Fersen
geheftet? Vorsichtig tritt sie näher. »He, Sie!
Suchen Sie etwas?«, spricht sie die Gestalt an.
Ein fröstelndes Zucken zieht über das zusammen-
gekauerte Wesen. Evi tritt näher. »Hallo? Geht's
Ihnen nicht gut?«
Unendlich langsam hebt die Gestalt den Kopf.
»Evi?«
»Gustl? Bist du es wirklich?«
»Was noch von mir übrig ist«, haucht Gustl.
»Komm schnell rein. Sonst erwischt uns die
Morgensonne«, sagt Evi Ramp. Unter Ächzen und
Stöhnen schleppt sie ihren Freund in die Gruft und
verfrachtet ihn auf ihr Sofa. Im flackernden Licht
einiger Kerzen erkennt sie, in welch zerrupftem
Zustand Gustl Bauer bei ihr angekommen ist.
Seinen Filzhut hat er verloren, das Hemd ist
zerfetzt, selbst die Lederhose hat Risse. »Erzähl
doch«, fordert Evi ihren Gast auf. »Was war denn
los?«
Gustl berichtet, dass er schon beim ersten
Versuch, jemanden zu beißen, ausgelacht wurde.
Beim zweiten Versuch wurde er von seinem Opfer
auf übelste Weise beschimpft. Das dritte Opfer
schließlich rief um Hilfe, die auch prompt kam.
»Wenn ich nicht im letzten Moment davon-
gekommen wäre, hätten sie mich windelweich
geprügelt. Ich hasse Halloween.«
Evi schüttelt den Kopf. »An Halloween hat es nicht
gelegen.«
»Woran denn sonst« fragt Gustl beleidigt.
»Du warst nicht schrecklich genug verkleidet.« Evi
zeigt auf seine Lederhose.
Gustl Bauer zuckt hilflos mit den Schultern. »Es
War das schrecklichste Kostüm, das ich finden
konnte.«
Für Menschen ist es anscheinend nicht
schrecklich genug.«
ebenfalls bei Ravensburger erschienen:
|