Alles
zu spät
Anna und Kevin Hollerbach schrecken beinahe gleichzeitig
aus den Federn. Papa steht im Türrahmen zu Kevins
Zimmer, Mama reißt im selben Moment Annas Tür auf.
»Wir haben verschlafen!«, rufen die Eltern. »Beeilt euch.«
Bis Kevin mit einem matten »Was?« reagieren kann, ist
Papa auf dem Weg zur Küche bereits über Dicky gestolpert
und hört nicht mehr, was sein höchstens halbwacher Sohn
von sich gibt.
Anna dagegen ist sofort putzfidel. Während Mama ihren
Vorhang aufzieht, versucht sie bereits die Lösung für ihr
erstes Problem an diesem Tag zu finden. »Mama, wir
schreiben heute in der ersten Stunde Mathe! Ich brauch
eine Entschuldigung.«
»Ein bisschen Tempo, und du kommst noch pünktlich«,
antwortet Mama und eilt ihrem Mann zu Hilfe, das Frühstück
zu richten.
Während die Kaffeemaschine schon blubbert, ist weder
Milch aufgesetzt, noch der Tisch gedeckt, noch Brot geschnitten.
»Wenn du schon vergisst, den Wecker zu stellen«, grummelt
Mama vorwurfsvoll, »setz wenigstens erst Milch für die Kinder
auf. Die müssen schließlich zuerst aus dem Haus.«
»Meine Güte, der Wecker ist stehen geblieben«, mault Papa
Hollerbach. »Die Batterien sind eben leer. Und wenn die zwei
mal fünf Minuten zu spät kommen, geht die Welt nicht unter.«
»Anna schreibt Mathe, heute«, sagt Mama.
»In Mathe ist sie sowieso gut.«
Mama sagt nichts mehr. Sie weiß selbst, dass sie morgens
manchmal muffellaunig ist. Mit vier Tassen in der Hand dreht
sich um und stolpert über den Hund. »Dicky! Ab ins Eck.«
Der Hund winselt. »Ist ja schon gut«, sagt sie entschuldigend
und ruft nach ihrem Sohn. »Kevin! Der Hund platzt gleich! Du
bist dran mit der Morgenrunde.«
»Kann nicht!«, ruft Kevin zurück.
»Musst aber!«, ruft Mama.
Nur mit Unterhose und einer Socke bekleidet, kommt Kevin
an die Küchentür. »Ich finde meine zweite Socke nicht.«
»So geht das nicht, Kevin«, sagt Mama vorwurfsvoll. »Wir
haben fest vereinbart, wer wann mit Dicky dran ist. Dann musst
du dich an deinen Tagen eben ein ranhalten.«
»Wenn ich aber meine Socke nicht finde«, nölt Kevin.
»Nimm dir einfach ein anderes Paar«, sagt Papa, während er
Schulbrote schmiert wie ein Fließbandarbeiter.
Wenige Minuten später ist die Familie tatsächlich am Tisch
versammelt. Die Milch ist eingegossen, die Vesperdosen sind
gerichtet, die Schultaschen sind gepackt und Papa ist anstelle
von Kevin mit Dicky vor der Tür gewesen. Hastig löffeln die
Kinder ihr Morgenmüsli in sich hinein.
»Hab ich gestern bekommen«, sagt Kevin körnersprühend und
schiebt einen Zettel in die Tischmitte.
Es ist eine Nachricht von Kevins Lehrerin. Mama überfliegt
den Text. »Du kannst wieder ins Bett gehen«, sagt sie. »Dein
Sportunterricht fällt heute aus. Du musst erst zur dritten.«
»Fies«, sagt Kevin. »Dann hätte ich ja ausschlafen können.«
»Zeig uns in Zukunft deine Zettel einfach sofort«, sagt Papa.
Das Telefon klingelt. Anna geht ran. »Echt? Scheiße!«
»Anna, bitte!«, weisen beide Eltern ihre Tochter zurecht.
»Na ja, auch recht«, sagt Anna in den Hörer. Nachdem sie
das Gespräch abgedrückt hat, wählt sie sofort selbst eine
Nummer. »Tina? Ich bins, Anna. Telefonkette.
Mathe fällt aus. Herr Eichel ist krank. - Ja, genau, erst zur
dritten.«
Anna kehrt an den Tisch zurück. Schweigend bringt Familie
Hollerbach das Frühstück in aller Ruhe zu Ende.
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