Leseprobe aus:
Einfach weg!
Ravensburger »Short & Easy« Taschenbuch
In diesem Moment hörte Robin hinter sich ein
Auto.
Ohne sich umzusehen, hob er den Daumen. Das Auto
fuhr weiter. Dann: rote Bremslichter. weiße Rückleuchte,
das heulende Getriebe im Rückwärtsgang. Vermutlich
so ein Rambo. Nein. Eine Frau. Robin blieb stehen. Das
Auto hielt an. Das Seitenfenster senkte sich. »Wohin?«,
rief die Fahrerin. wohin? Wenn er das wüsste. »Einfach
weg« würde der Wahrheit am nächsten kommen.
(Rückentext)
Warum
eigentlich nicht per Anhalter? An diese Möglichkeit hatte Robin noch gar nicht gedacht. In seiner Wut hatte er sich aufs Fahrrad geschwungen und war losgeradelt. Er wollte einfach alles hinter sich lassen. Und dann so eine Panne! Gerade mal bis zum Stadtrand war er gekommen. Ein platter Hinterreifen. Pumpe und Flickzeug? Fehlanzeige. Aber aufgeben? Nein. Er warf das Rad in den Graben, um zu Fuß weiterzugehen. Und in diesem Moment hörte er hinter sich ein Auto. Ohne sich umzusehen, hob er den Daumen. Konnte ja nicht schaden. Das Auto fuhr weiter. Robin klappte den Daumen ein und fuhr den Mittelfinger aus. Rote Bremslichter, weiße Rückfahrleuchte, das heulende Getriebe im Rückwärtsgang. Abhauen? Über den Acker das Weite suchen? Vermutlich war der Fahrer so ein Rambo, der gern die Muskeln spielen ließ? Nein. Eine Frau. Robin blieb stehen. Das Auto hielt an. Das Seitenfenster senkte sich. »Wohin?«, rief die Fahrerin. Wohin? Wenn er das wüsste. Einfach weg würde der Wahrheit am nächsten gekommen. Aber sicher keine gute Antwort für jemanden, der angehalten hatte, um ihn mitzunehmen. »Was denn nun?«, rief sie. »Richtung Süden?«, fragte Robin. »Steig ein.« Er stopfte den prallen Tagesrucksack vor sich in den Fußraum und schnallte sich an. Die Fahrerin sah in den Rückspiegel, blinkte und kehrte auf die Straße zurück. »Sind schon Ferien?«, wollte sie wissen. Dass es kritische Fragen geben könnte, wenn ein Junge seines Alters um diese Uhrzeit nicht in der Schule hockte, hatte Robin nicht bedacht. Kurz vor elf Uhr. Normalerweise hätte er jetzt Englisch. Aber was ging es diese Frau an, weshalb er den Unterricht schwänzte? Er fragte umgekehrt doch auch nicht, wieso sie mit ihrem Auto durch die Gegend fuhr. Würde sie sich mit einem Ja zufrieden geben? Robin sah kurz zu ihr hinüber. Wie alt mochte sie sein? Mitte zwanzig? Ob sie sich mit Ferienterminen auskannte? Im Auto gab es keinen Kindersitz. Vermutlich hatte sie keine Kinder. Aber vielleicht gehörte sie zu diesen Schlaumenschen, die erst einen auf ahnungslos machen, um sich später als Besserwisser erkennen zu geben? Sollte er einen Arzttermin vorschieben? Nein, auch nicht gut. Sie würde bestimmt nachhaken. Per Anhalter zum Arzt? Nach kurzer Bedenkzeit, behauptete Robin, er hätte heute frei. »Einfach so?« Sie schaute zu ihm. »Könnte es nicht sein, dass du von zu Hause abhaust?« »Quatsch«, stieß Robin hervor. Wie gut, dass er nie rot wurde. »Die machen Zeugniskonferenz«, erklärte er locker. Das war nicht einmal abwegig. Das Schuljahr neigte sich tatsächlich seinem Ende zu. Die Fahrerin nickte. Offenbar hatte er sie überzeugt. Trotzdem war das Verhör noch nicht zu Ende. Ohne den Blick von der Straße zu wenden, fragte sie weiter. »In welche Klasse gehst du denn?« »Achte«, antwortete Robin. Diesmal war es die volle Wahrheit. »Was für eine Schule?« »Gymnasium«, antwortete er knapp. Auch das stimmte. Zumindest bis vor ca. zwei Stunden. »Achte?« Erneut sah sie ihn an. Konnte sie sich nicht einfach auf die Straße konzentrieren? »Ich hätte dich für älter gehalten. Sechzehn?« Sie wandte noch einmal den Kopf. »Mindestens fünfzehn?« »Sechzehn«, erwiderte Robin schulterzuckend. Seltsam er war schon wieder bei der Unwahrheit gelandet. Dabei war er nicht einmal darauf aus, irgendwelchen Mist zu erzählen. Die Wahrheit schien die Fahrerin grundsätzlich anzuzweifeln. Die kleinen Lügen dagegen akzeptierte sie anstandslos. »Spät eingeschult und einmal kleben geblieben«, erklärte Robin knapp, weshalb er als Sechzehnjähriger noch immer die achte Klasse besuchte. Er wusste, dass er älter wirkte. Wenn es darum ging, Zigaretten oder Alkohol zu kaufen, schickten ihn seine Kumpels und Kollegen immer vor. Schon oft war er damit durchgekommen. Seine Antwort war allerdings auch ihm vollkommen neu. Er war weder sitzen geblieben, noch spät eingeschult worden. Im Gegenteil. Robins fünfzehnter Geburtstag war erst in drei Wochen. Er war in seiner Klasse schon immer einer der Jüngsten gewesen. Solange seine Chauffeurin jedoch zufrieden war und ihn in die nächste Stadt kutschierte Robin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er blickte durchs Seitenfenster in die Landschaft, um es zu verbergen. Schon kam die nächste Frage. »Machst du das häufiger?« »Was?« »Dich an die Straße stellen.« Robin zuckte mit den Schultern. »Was ist häufig?« Seine Eltern hatten ihm und seinem Bruder ausdrücklich verboten, per Anhalter zu fahren. Sie hatten Angst, es könnte was passieren. Seine Mutter gab ihm Geld für den Bus oder wenn es mal später wurde, auch für ein Taxi. Mehr als vier, fünf Mal hatte er den Daumen bestimmt noch nicht rausgehalten. Und dann immer mit Kumpels oder Kollegen. »Ein-, zweimal die Woche.« »Wo soll es genau hingehen?« Robin nannte die nächste größere Stadt, die ihm einfiel. »Göttingen.« »Passt doch. Da muss ich auch hin.« Sie konzentrierte sich auf ein Überholmanöver. »Und was machst du da?« Noch eine Frage, auf die Robin gerne selbst eine Antwort gehabt hätte. Er zögerte. »Bin ich zu neugierig?«, fragte die Fahrerin. Ja, verdammt!, hätte er wahrheitsgemäß erwidern müssen. Er wollte die Frau jedoch nicht verärgern. Immerhin würde er mit ihrer Hilfe knapp hundert Kilometer weiter kommen. Wenn sie unbedingt unterhalten sein wollte, spielte er eben mit. Er winkte ab. »Nein. Ist schon okay. Ich besuche meine Freundin.« »Und?«, fragte die Fahrerin schmunzelnd. Erneut betrachtete er sie von der Seite. Was wollte sie nun hören? Wie hübsch seine Freundin war? Wie lange sie schon zusammen waren? Was sie gemeinsam unternahmen? Weshalb sie nicht in der selben Stadt wohnte? Er hatte doch nicht mal eine Freundin! »Du kannst mich ruhig beim Wort nehmen«, meinte die Fahrerin, »wenn ich zu viel frage, sag es einfach.« »Kein Problem«, antwortete er. »Hab bloß überlegt, ob es noch stimmt, dass ich zu meiner Freundin fahre.« »So was weiß man doch.« »Eben nicht. Ich habe keine Ahnung, ob es nicht schon vorbei ist.« Robin hangelte sich von einer Idee zur nächsten. Er schlüpfte in eine neue Haut. Probierte tastend aus, ob sie ihm passte. Die Geschichte eines anderen zu erzählen, war ganz einfach. Robin konnte regelrecht fühlen, was in diesem anderen vorgehen musste. Der konnte sich bei derart persönlichen Fragen doch nur verlegen fühlen. Deshalb mimte er jetzt auch den Zurückhaltenden, der sich einer Fremden gegenüber nur zögernd offenbarte. »Na ja«, fuhr er gedehnt fort, »ich weiß eben nicht, ob ich ihr noch wichtig bin. Immer muss ich zu ihr fahren. Nie kommt sie zu mir.« Er war gespannt, was sie mit seiner Beschwerde anfangen würde. Sie nickte. »Hm.« »Das geht jetzt schon ein halbes Jahr«, maulte Robin weiter. »Ein halbes Jahr?«, erwiderte sie staunend. »Als ich so alt war wie du, hatte ich immer schon nach zwei, drei Wochen die Faxen dicke und Schluss gemacht. Spätestens. - Du scheinst ja ein ganz besonders lieber sein.« Mit Komplimenten hatte Robin nun gar nicht gerechnet. Er musste sich räuspern, bevor er fortfuhr. »Nächsten Monat wird es ein Jahr.« Der Satz war noch nicht zu Ende, als er merkte, wie unwahrscheinlich sich das anhörte. In seinem ganzen Freundeskreis hatte noch nie etwas länger als ein paar Wochen gedauert. Er selbst war nahezu unerfahren. Ein einziges Mal hatte er mit einem Mädchen geknutscht. Vor ein paar Wochen auf der Kellerparty eines Freundes. Eher zufällig war dieses Mädchen neben ihm auf der Couch gelandet. Sein Freund hatte Tags darauf wissen wollen, wie es denn gewesen wäre. Robin konnte sich nicht mal an ihren Namen erinnern. Zu viel Alkohol. Es war eben ein Abend mit gleich zwei neuen Erfahrungen gewesen. Und beide nicht so toll. Doch die Fahrerin schien ihm die Langzeitbeziehung zu glauben. Ihre Miene spiegelte Staunen und Anerkennung wider. Robin fragte sich, ob er so überzeugend wirkte oder ob die Frau recht leichtgläubig war. Um seine Geschichte weiterspinnen zu können, gab er der angeblichen Freundin Gestalt. Er entschied sich für ein Mädchen aus seiner Parallelklasse. »Wir sind vor einem halben Jahr umgezogen. Seitdem wirds immer schwieriger«, schüttete er sein Herz weiter aus. »Ich glaube, sie hat einen anderen.« Die Fahrerin nickte. »Blöd, so was.« »Ja, wenn sie es wenigstens zugeben würde.« »Hast du schon gefragt?« Mit resigniertem Kopfschütteln antwortete er leise: »Ich hab es mir für heute vorgenommen.« Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen. »Ganz schön mutig«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich es besser lassen«, führte Robin den Gedanken weiter. »Wenn sie zugibt, dass sie einen andern hat, ist es aus. Wenn sie nichts zugibt, weiß ich nicht, ob es die Wahrheit ist. Oder es ist überhaupt nichts dran und sie ist sauer, dass ich misstrauisch und eifersüchtig bin.« »Du meinst«, sagte sie mitfühlend, »du ziehst so oder so den Schwarzen Peter.« Robin nickte. Obwohl er anstelle von Schwarzer Peter eher von Arschkarte reden würde. Allerdings war die Arschkarte nicht sein Problem, sondern das eines anderen. Also mimte er jetzt den Mutigen. »Trotzdem will ich endlich wissen, was Sache ist.« Die Fahrerin blickte schweigend auf die Straße. »Die Wahrheit ist nicht immer das, was man hören möchte«, sagte sie gedankenverloren. »Wem sagen Sie das?«, antwortete Robin ernst. Er fand die Situation zum Brüllen. Es war noch keine zwei Stunden her, da hatte man ihm nicht glauben wollen, obwohl er voll die Wahrheit gesagt hatte. Sein Lehrer dagegen hatte das Blaue vom Himmel gelogen, um ihn in die Pfanne zu hauen. Wenn Robin wenigstens kapieren würde, weshalb sich der Typ ausgerechnet immer wieder an ihm festbiss. Nun log er selbst, was die Balken hergaben und die Tante am Steuer schien jedes Wort zu glauben. Innerhalb weniger Minuten war Robin um mehr als ein Jahr gealtert. Er war unterwegs in eine ihm unbekannte Stadt, in der er angeblich mal gewohnt hatte. Von seiner Freundin wusste er nur, dass sie es mit Treue nicht sehr genau nahm und aussah wie ein Mädchen aus der Parallelklasse. Er hatte ein neues Leben erfunden und war gespannt, wie es weiterging. Es war wie Kino und er war mitten im Film. Sogar in der Hauptrolle. ...
|