Leseprobe

AVI & Rachel Vail:         Küss mich, Zwilling!

 


Titel-Illustration: Kirsten Strassmann
Aus dem Englischen 
EDWARD von Werner Färber 
MEG von Nina Schindler 
ISBN 3--401-05809-6; Euro 9,95; ab 12

EDWARD

Meine Schwester und ich sind 
zwar am selben Tag zur Welt 
gekommen, allerdings war ich 
zehn Minuten früher dran als sie. 
Und glaube mir – zehn Minuten 
bedeuten eine Menge. Natürlich 
haben wir die selben Eltern, le-
ben im selben Apartment der 
106. Straße, in derselben Stadt, 
im selben Regierungsbezirk, im 
selben Land und auf dem sel-
ben Kontinent. Aber ich bin kein 
bisschen
wie sie. Ganz und gar 
nicht, keine Chance. Und als ihr 
Zwilling fühlte ich mich erst recht 
nicht. 

Ein Beleg für unsere grundsätzliche Verschiedenheit ist das 
Interview mit unseren Großeltern. In der fünften Klasse gab 
uns der Lehrer sechzehn Fragen, die wir ihnen stellen sollten. 
Ich möchte meinen Großeltern nicht zu nahe treten, aber so 
richtig spannend sind sie nicht. Also hab ich mir einfach was 
ausgedacht. Leider wollte der Lehrer weder glauben, dass 
meine Großmutter regelmäßig mit Pfeil und Bogen auf die 
Jagd nach Gürteltieren ging, noch ließ er sich davon über-
zeugen, dass mein Großvater die weltgrößte unter Glas ge-
haltene Ameisenzucht besaß.
Meg begnügte sich mit der langweiligen Wahrheit und bekam 
eine Eins.
  Auch unsere Aufsätze über unser Lieblingstier bewiesen, 
wie verschieden wir sind. Meg berichtete vom dreitägigen 
Leben unseres einzigen Haustiers: Polly, ein jämmerlicher 
Goldfisch. Was gab es da groß zu berichten? Polly lebte, 
Polly fraß, Polly schwamm kieloben. 
Ich dagegen schrieb über mein Stachelschwein, das in mei-
nem Wandschrank hauste und Einbrecher verscheuchte. Als 
ich den Aufsatz vor der Klasse zum Besten gab, brachte ich 
alle zum lachen. Nur nicht Meg … und den Lehrer.
Zum Glück haben meine Eltern dieses Jahr einen Weg gefun-
den, uns - von der siebten Klasse an - unterschiedliche 
Schulen besuchen zu lassen.
»Ihr habt eben beide eure besonderen Talente und euren 
eigenen Stil«, sagte Mama. 
»Wir sind froh, dass ihr jeweils auf eure eigene Art ganz 
besonders seid«, fügte mein Dad hinzu. »Und wir möchten 
euch ganz individuell fördern.« 

So kam es, dass Meg mit Beginn des neuen Schuljahres – 
seit drei Wochen – die Fischer-Highschool in der East Side 
besucht. Ich gehe an die Charlton-Street-Alternativ-Schule 
weiter südlich.
Meg wird wohl weiterhin die üblichen Einsen sammeln. Be-
kommt sie in einem Test mal eine 1- oder eine 2+, ist sie 
todunglücklich.
An meiner neuen Schule gibt’s keine Noten. Man misst ihnen 
keine Bedeutung zu. Das Prinzip basiert auf kleinen Klassen, 
in denen man in zahllosen Projekten, Exkursionen und prakti-
schem Kram bestehen oder durchfallen kann. Abgesehen 
davon, dass ich die Schulpflicht grundsätzlich in Frage stelle, 
scheint mir dieser Ansatz ganz in Ordnung.
Meg ist jedoch nicht nur eine perfekte Schülerin. Sportlich ist 
sie obendrein. Sie hat bereits jede Menge Medaillen (Schwim-
men) und Pokale (Fußball) gesammelt. Ich fahr gerne Skate-
board.
Ihr Zimmer ist blitzsauber.
Mein Zimmer ist ein einziges Chaos.
Meg will mal Senatorin werden. Eventuell sogar Präsidentin. 
Erwachsene lieben so was. »Das ist bestimmt nicht verkehrt«, 
sagen sie. »So eine Herangehensweise gefällt mir. Meine 
Stimme hast du.« Haha. Meine nicht. 
Fragt man mich, was ich mal werden will, sag ich immer: 
»Nichts.« Mein Vorbild? Bill Gates. Der reichste Mann der Welt 
– und er war nie auf dem College.
Außerdem sieht Meg viel älter aus als ich. Sie ist mindestens 
30 Zentimeter größer – eine Riesin – und meint, sie sähe aus 
und verhalte sich wie eine aus der Achten. Vielleicht sogar aus 
der Neunten.
Und ich? Am ersten Schultag erkundigte sich Mr Feffer, ein 
kahlköpfiger Lehrer, dem grässliche Haarbüschel aus der Nase 
ragen, nach meinem Geburtsdatum. Er konnte einfach nicht 
glauben, dass ich überhaupt schon was in der siebten Klasse 
verloren hatte. So mickrig komme ich den Leuten vor. Weder 
meine Rattenschwanzfrisur noch falsche Tattoos können die-
sen Eindruck übertünchen.
Dann hat Meg natürlich auch noch Trilliarden von Freunden. 
Wenn sich ausnahmsweise mal nicht massenweise Leute um 
sie scharen, fühlt sie sich wie auf einer einsamen Insel. Die 
meiste Zeit verbringt sie mit ihren Leuten am Telefon. Wenn 
ich sie nach dem Auflegen frage, wer dran war, bekomme ich 
immer die gleiche Antwort: »Eine meiner Freundinnen, die du 
sowieso nicht kennst.«
(Natürlich kenne ich die alle. Schließlich höre ich oft genug an 
unserem zweiten Anschluss in der Küche mit. Meine Schwester
 mag klug sein, aber besonders aufgeweckt ist sie nicht.) 
Bis Anfang dieser Woche hatte ich nur einen Freund, Stuart 
Barcaster. Auch wenn er der beste Kumpel auf der Welt ist – 
und mehr wert als alle ihre Freunde zusammen –, hatte ich eben 
doch nur ihn.
Du verstehst, was ich meine? Wenn sie zwölf Uhr mittags ist, bin 
ich Mitternacht. So verschieden sind wir. 
Jetzt frag ich mich nur, wie ich am besten anfange, wenn ich dir 
nun die ganze Geschichte erzähle.

 

MEG

Und alles  nur wegen meinem Riesenehrgeiz. Weil ich mich immer 
schrecklich anstrenge, um alles richtig zu machen, habe ich dieses 
ganze Durcheinander verursacht. Und was für ein Durcheinander!
Ich war schon immer schrecklich ehrgeizig. Aber wenn ich meinen
Ehrgeiz drossele - was passiert dann? Dann setze ich all meinen 
Ehrgeiz drein, nicht mehr ehrgeizig zu sein, und verkrampfe total. 
Letztes Jahr hat mir meine Mutter ein Buch über Entspannung ge-
schent, aber die Entspannungsübungen haben mich so sehr ange-
strengt, dass ich gleich am Anfang stecken blieb und nicht über Ka-
pitel zwei hinauskam. Hundertmal sag ich mir jeden Tag: Entspann 
dich, aber dann muss ich überprüfen, ob ich auch entspannt genug 
bin, und mach mir Sorgen, dass ich es nicht richtig hingekriegt hab.

 ...

Wie geht es weiter zwischen den ungewöhnlich verschiedenen 
Zwillingen? 

 

 

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