...
Fünf Minuten später betrachtete ich ungläubig
die Flaschensammlung, die auf dem Tisch der
Jungen stand. Hatte ich irgendwelche Vorab-
sprachen verpasst? Sieben von uns hatten Alko-
hol von zu Hause mitgebracht. Vor allem härtere
Sachen. Ein halber Liter Wodka, eine Flasche
Kräuterschnaps, ein Martini und zwei Flachmänner.
Einer mit Rum, einer mit
Weinbrand.
Darüber hinaus steuerte Anna eine Zweiliter-
flasche Rotwein
bei. Im Vergleich zu diesem
Riesenkolben wirkte mein Fläschchen Sekt,
als hätte ich ihn aus einem Kinderkaufladen
geklaut. Diesen Piccolo
hatte ich ohnehin
nur für den Fall eingesteckt, dass es bei
Simone
etwas zu feiern gäbe.
»Das reicht ja wohl für die Woche«,
meinte Mark.
»Optimist«, erwiderte Erhan. »Wo ist
eigentlich dein Beitrag?«
Mark
wurde rot. »Mein Alter hat nur Wein zuhause
und zählt immer alles
ab, Mann. Und was
Scharfes hab ich im Laden nicht bekommen.«
»Schon
blöd, wenn man so ein Milchgesicht
hat«, sagte Joschi. »Ich hatte
keine Probleme.«
»Ich
geb dir gleich ein Milchgesicht«, fuhr
Mark ihn an. »Unter sechzehn
kriegst du
nicht mal Bier oder Wein.«
»Meinst
du, mir wäre der Wodka auf der Straße
zugelaufen?«, fragte Joschi.
Harpo lachte. »Hübsche Idee - frei laufender Wodka.«
Er hielt die Hände vor sich, als hätte er vor,
jemanden zu erwürgen. Mit irrem Blick
fixierte er die Wodkaflasche und näherte sich
auf Zehenspitzen dem
Tisch. Plötzlich ließ er
seine Hände vorschnellen. Er packte die Wodka-
flasche am Hals und rang sie auf dem Fußboden
nieder. »Hab ich
dich«, sagte er triumphierend
und schraubte grinsend die Flasche
auf.
Er nahm einen Schluck und reichte sie weiter.
»Auf Bargheide,
Leute.«
In diesem Moment stand er auf meiner Liste
der Heimfahrer ganz oben. Arme Simone.
Sie hatte sich so darauf gefreut, eine Woche
mit ihm zusammen zu sein.
»Schmeckt irgendwie nach nichts«, sagte meine
Freundin, nachdem sie als Erste
die Hand
ausgestreckt hatte, um den Wodka von Harpo
zu übernehmen.
Die Flasche wanderte von Mund zu Mund.
»Hab schon besseren getrunken«,
spielte Mark
den Fachmann und presste einen dröhnenden
Rülpser hervor.
Die Jungs lachten. Die Mädchen schwiegen.
Wie immer, wenn jemand so
rumferkelte.
Dann war Erhan an der Reihe und bediente sich
zweimal. Seine Familie stammte aus der Türkei,
sie waren jedoch keine gläubigen Muslime.
Das religiöse Alkoholverbot kümmerte ihn
offensichtlich wenig. Und das unserer Lehrer
nahm er ebenfalls nicht ernst. War er Kandidat
Nummer zwei?
Wenn Erhan nach Hause geschickt würde,
konnte das allerdings schlimme Folgen haben.
Er hatte sich in diesem Schuljahres bereits
mehrere Ermahnungen eingefangen,
weil er sich in den Pausen regelmäßig
unerlaubt vom Schulgelände entfernt hatte.
Kürzlich wollte ein Lehrer einen seiner
Ausflüge zum Supermarkt verhindern und
hielt ihn von hinten an der Jacke fest.
Erhan riss sich los. Der Lehrer verlor
das Gleichgewicht und landete
in den Büschen.
Eine Menge Leute konnten bezeugen,
dass Erhans Gegenwehr ein ganz normaler
Reflex gewesen war und der Lehrer einfach
unglücklich ins Stolpern geraten war. Trotzdem
gab es mächtigen Ärger. Bei jedem weiteren,
noch so kleinen Fehltritt musste Erhan mit einem
Schulverweis rechnen.
Bevor er die Flasche nun ein drittes Mal ansetzen
konnte, nahm ich sie ihm aus der Hand.
Ebenso wie Simone, hatte auch ich noch nie
Wodka getrunken. Sie hatte Recht. Er schmeckte
zunächst ziemlich wässrig. Mit einem parfümigen
Nachgeschmack. Nur das wärmende Gefühl,
das
ich vom Rachen über die Kehle bis in
meinen Magen verfolgen konnte,
ließ auf etwas
Hochprozentiges schließen. Aber selbst wenn
man das Zeug wegschlucken konnte wie Mineral-
wasser, hatte ich nicht vor, dies
auch zu tun.
Zum Thema Alkohol hatte mir Mama einen Tipp
gegeben: »Falls
du mal was trinkst«, hatte sie
vor unserer Abreise gesagt, »nimm
einen
Schluck. Dann warte.
Beobachte, was passiert.
Spürst du was im
Kopf? Tut sich was im Bauch?
Und wenn ich warten sage, meine ich
warten.
Nicht nur ein, zwei Minuten. Am besten
eine halbe Stunde. Und
wenn die andern noch
so schnell trinken - warte. Du wirst es nicht
bereuen.«
»He, worauf wartest du?«, riss mich Anna
in die Wirklichkeit zurück. »Schon besoffen?«
Die Flasche war gerade einmal ganz herum,
als es an unserer Haustür klopfte.
Harpo lehnte inzwischen an der Wand neben
dem Fenster. Er schob den Vorhang
zur Seite.
»Ups, Besuch«, sagte er. »Albert, die Glocke
und die Haustante von hier.« Lächelnd winkte
er nach draußen und öffnete das Fenster.
»Was verschafft uns die Ehre?«
Der Rest von uns fiel in Panik. Hektisch
ließen wir die Flaschen in den Schränken
verschwinden. Hörten unsere Besucher
das Geklapper durchs Fenster? Mark verteilte
Pfefferminzbonbons. Ich hielt meine Kaugummis
in die Runde. Harpo ging derweil seelenruhig
zur Tür und ließ die drei herein. Unschuldig
wie die Engelchen kamen auch wir aus den
Zimmern und verteilten uns auf den Sitzmöbeln
des Gemeinschaftsraumes. Harpo stand sofort
wieder auf. »Darf ich ein Käffchen anbieten?«
»Ihr habt Kaffee dabei?«, fragte die Glocke.
Harpo hielt erschrocken die Hand auf den Mund.
»Ist Kaffee etwa auch verboten?«, fragte er
mit gespielter Panik.
...
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